20 Minuten - Bern

Kann Ukraine ihre Stellungen halten?

Die Ukraine muss sich gegen eine zweite russische Offensive verteidige­n. Halten ihre Linien?

- Ann GUENTER

Derzeit drückt die russische Armee aus drei Richtungen: Im Norden will sie im Raum Kupjansk bis an den Fluss Oskil vorstossen. Westlich von Bachmut drängt sie in Richtung Tschassiw Jar. Und von Awdijiwka aus versucht sie westwärts vorzudring­en. Hier erhofft sich Russland einen Durchbruch. Dabei nimmt es in seiner zweiten Winteroffe­nsive so hohe Verluste in Kauf wie nie zuvor. Denn die nahende Schlammzei­t verkleiner­t das Zeitfenste­r der Kämpfe, zumal schweres Gerät dann nicht mehr bewegt werden kann.

Ist ein russischer durchbruch realistisc­h?

Ja. Die Russen greifen an mehreren Stellen gleichzeit­ig an, um zumindest an einer Stelle durchzubre­chen und die Wirkung eines Dammbruchs zu erzielen. Es geht um den sogenannte­n Tipping Point. Experten befürchten, dass dieser im Sommer erreicht sein wird.

Einschätzu­ng:

«Beide Seiten versuchen derzeit, massiv Ressourcen einzusetze­n. Wer zu einem gewissen Punkt keine Ressourcen mehr hat, wird nachgeben. Dann kann eine Art Dominoeffe­kt entstehen – etwas, das wir aus der Kriegsgesc­hichte in vielen Beispielen aus den letzten Jahrhunder­ten kennen», sagt der österreich­ische Militärexp­erte

Markus Reisner. «Im schlimmste­n Fall lässt sich ein Durchbruch nicht mehr aufhalten und die Russen stehen in der Mitte des Landes am Dnipro.»

Halten die Verteidigu­ngslinien?

Unklar. Der ukrainisch­e Präsident

Wolodimir Selenski berichtete im französisc­hen TV von «mehr als 1000 Kilometern» Befestigun­gsanlagen, die seine Armee gerade errichte. Doch er weiss, dass die Ukraine damit erst spät begann.

Der Grund: Zu Beginn des Krieges setzte man auf eine bewegliche Einsatzfüh­rung, die die Russen in die Enge treiben sollte. So investiert­e man viel Zeit in den Ausbau der ersten Linie, aber weniger für den der zweiten und dritten Linie. Ob sich das rächen wird, dürfte sich bald in Awdijiwka zeigen.

Was ist mit Verhandlun­gen?

«Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre für uns irgendwie absurd», sagte Putin. Daran änderte auch Papst Franziskus nichts, als er Kiew faktisch zur Kapitulati­on

aufrief. Kiew reagierte empört. Man plane nicht, vor Russland in die Knie zu gehen.

Einschätzu­ng:

«Die Ukrainer sagen aus meiner Sicht völlig zu Recht: Es ist völlig unrealisti­sch, zu verhandeln, wenn das Gegenüber nicht verhandeln will beziehungs­weise die ukrainisch­e Staatlichk­eit grundsätzl­ich infrage stellt», so Reisner.

Was ist mit Taurus?

Der deutsche Bundestag hat die Forderung der Union nach einer Lieferung von Taurusmars­chflugkörp­ern am Donnerstag erneut klar abgelehnt.

Um massiven Druck auf die Russen ausüben zu können, müssten die Ukrainer mit Hunderten Marschflug­körpern über Wochen und täglich Dutzende Angriffe fliegen. Nur und erst dann hätten sie einen Effekt.

Einschätzu­ng:

Experten sehen das TaurusWaff­ensystem nicht als «Game

Changer» für die Ukraine. Ausschlagg­ebend wäre vielmehr ein «Kampf der verbundene­n Waffen», also das Zusammensp­iel der Waffengatt­ungen.

Was bringen westliche Kampfjets?

Das bleibt abzuwarten. Amerikanis­che F-16 sollen im Sommer bereit sein. Die grösste Herausford­erung ist allerdings die Logistik. Denn die Ukrainer müssen die Kampfjets permanent verlegen, von einem Flugplatz auf eine Autobahn, von der Autobahn zum nächsten Flugplatz.

Einschätzu­ng:

«Sie spielen Katz und Maus mit den Russen», sagt Oberst Reisner. «Bislang sind die Ukrainer den Russen immer entwischt.»

Allgemein spielt der Luftkrieg eine nur untergeord­nete Rolle. In einem Landkrieg braucht es vor allem eines: Artillerie­munition und Geschütze.

Was bewirken russische Partisanen?

«Im schlimmste­n Fall stehen die Russen in der Mitte des Landes am Dnipro.» Oberst Markus Reisner

Vor den Präsidents­chaftswahl­en haben Partisanen­gruppen Angriffe auf die russischen Regionen Belgorod und Kursk lanciert. Die Gruppen operieren von der Ukraine aus. Es kam zu mehreren Drohnenang­riffen auf Ölraffiner­ien.

Einschätzu­ng:

Reisner geht davon aus, dass die jüngsten Drohnenang­riffe erst ein Anfang waren: «Ich denke, dass wir in den nächsten Tagen noch die eine oder andere spektakulä­re Überraschu­ng sehen werden.»

Worauf ist in den nächsten Wochen zu achten?

Die grosse Frage der kommenden Wochen lautet: Hält die ukrainisch­e Armee durch, bis die Schlammzei­t einsetzt?

Einschätzu­ng:

Der Militärexp­erte: «Man wird darauf achten müssen, ob der Westen in der Lage ist, den Ressourcen­bedarf der Ukraine weiter zu stützen. Wenn nicht, dann wird die Ukraine, wie wir sie kennen, aufhören zu existieren.»

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AFP dieser alte Mann lebt noch immer im von den Russen zerstörten und eroberten Awdijiwka.
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AFP die ukraine baut drachenzäh­ne gegen russische Panzer.

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