Kann Ukraine ihre Stellungen halten?
Die Ukraine muss sich gegen eine zweite russische Offensive verteidigen. Halten ihre Linien?
Derzeit drückt die russische Armee aus drei Richtungen: Im Norden will sie im Raum Kupjansk bis an den Fluss Oskil vorstossen. Westlich von Bachmut drängt sie in Richtung Tschassiw Jar. Und von Awdijiwka aus versucht sie westwärts vorzudringen. Hier erhofft sich Russland einen Durchbruch. Dabei nimmt es in seiner zweiten Winteroffensive so hohe Verluste in Kauf wie nie zuvor. Denn die nahende Schlammzeit verkleinert das Zeitfenster der Kämpfe, zumal schweres Gerät dann nicht mehr bewegt werden kann.
Ist ein russischer durchbruch realistisch?
Ja. Die Russen greifen an mehreren Stellen gleichzeitig an, um zumindest an einer Stelle durchzubrechen und die Wirkung eines Dammbruchs zu erzielen. Es geht um den sogenannten Tipping Point. Experten befürchten, dass dieser im Sommer erreicht sein wird.
Einschätzung:
«Beide Seiten versuchen derzeit, massiv Ressourcen einzusetzen. Wer zu einem gewissen Punkt keine Ressourcen mehr hat, wird nachgeben. Dann kann eine Art Dominoeffekt entstehen – etwas, das wir aus der Kriegsgeschichte in vielen Beispielen aus den letzten Jahrhunderten kennen», sagt der österreichische Militärexperte
Markus Reisner. «Im schlimmsten Fall lässt sich ein Durchbruch nicht mehr aufhalten und die Russen stehen in der Mitte des Landes am Dnipro.»
Halten die Verteidigungslinien?
Unklar. Der ukrainische Präsident
Wolodimir Selenski berichtete im französischen TV von «mehr als 1000 Kilometern» Befestigungsanlagen, die seine Armee gerade errichte. Doch er weiss, dass die Ukraine damit erst spät begann.
Der Grund: Zu Beginn des Krieges setzte man auf eine bewegliche Einsatzführung, die die Russen in die Enge treiben sollte. So investierte man viel Zeit in den Ausbau der ersten Linie, aber weniger für den der zweiten und dritten Linie. Ob sich das rächen wird, dürfte sich bald in Awdijiwka zeigen.
Was ist mit Verhandlungen?
«Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre für uns irgendwie absurd», sagte Putin. Daran änderte auch Papst Franziskus nichts, als er Kiew faktisch zur Kapitulation
aufrief. Kiew reagierte empört. Man plane nicht, vor Russland in die Knie zu gehen.
Einschätzung:
«Die Ukrainer sagen aus meiner Sicht völlig zu Recht: Es ist völlig unrealistisch, zu verhandeln, wenn das Gegenüber nicht verhandeln will beziehungsweise die ukrainische Staatlichkeit grundsätzlich infrage stellt», so Reisner.
Was ist mit Taurus?
Der deutsche Bundestag hat die Forderung der Union nach einer Lieferung von Taurusmarschflugkörpern am Donnerstag erneut klar abgelehnt.
Um massiven Druck auf die Russen ausüben zu können, müssten die Ukrainer mit Hunderten Marschflugkörpern über Wochen und täglich Dutzende Angriffe fliegen. Nur und erst dann hätten sie einen Effekt.
Einschätzung:
Experten sehen das TaurusWaffensystem nicht als «Game
Changer» für die Ukraine. Ausschlaggebend wäre vielmehr ein «Kampf der verbundenen Waffen», also das Zusammenspiel der Waffengattungen.
Was bringen westliche Kampfjets?
Das bleibt abzuwarten. Amerikanische F-16 sollen im Sommer bereit sein. Die grösste Herausforderung ist allerdings die Logistik. Denn die Ukrainer müssen die Kampfjets permanent verlegen, von einem Flugplatz auf eine Autobahn, von der Autobahn zum nächsten Flugplatz.
Einschätzung:
«Sie spielen Katz und Maus mit den Russen», sagt Oberst Reisner. «Bislang sind die Ukrainer den Russen immer entwischt.»
Allgemein spielt der Luftkrieg eine nur untergeordnete Rolle. In einem Landkrieg braucht es vor allem eines: Artilleriemunition und Geschütze.
Was bewirken russische Partisanen?
«Im schlimmsten Fall stehen die Russen in der Mitte des Landes am Dnipro.» Oberst Markus Reisner
Vor den Präsidentschaftswahlen haben Partisanengruppen Angriffe auf die russischen Regionen Belgorod und Kursk lanciert. Die Gruppen operieren von der Ukraine aus. Es kam zu mehreren Drohnenangriffen auf Ölraffinerien.
Einschätzung:
Reisner geht davon aus, dass die jüngsten Drohnenangriffe erst ein Anfang waren: «Ich denke, dass wir in den nächsten Tagen noch die eine oder andere spektakuläre Überraschung sehen werden.»
Worauf ist in den nächsten Wochen zu achten?
Die grosse Frage der kommenden Wochen lautet: Hält die ukrainische Armee durch, bis die Schlammzeit einsetzt?
Einschätzung:
Der Militärexperte: «Man wird darauf achten müssen, ob der Westen in der Lage ist, den Ressourcenbedarf der Ukraine weiter zu stützen. Wenn nicht, dann wird die Ukraine, wie wir sie kennen, aufhören zu existieren.»