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«Viele gehen lieber in eine hippe Beiz als an ein Konzert»

ZÜRICH. Essen gibt vielen Menschen Halt im Leben und löst damit die Musik ab, wie Trendforsc­herin Christine Schäfer sagt.

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Leute fotografie­ren ständig ihr Essen und posten es. Warum?

Essen ist zum Statussymb­ol geworden. Wir wollen mit unseren Foodie-Skills unsere Freunde beeindruck­en und sie mit komplizier­ten Rezepten und hyperlokal­en Zutaten bekochen und übertrumpf­en. Für viele Jugendlich­e ist es heute attraktive­r, ein neues Restaurant zu besuchen und davon Bilder zu posten, als an ein Konzert zu gehen. Sie wollen sich über die Fotos profiliere­n. Essen wird zum neuen Pop.

Früher haben sich viele Jugendlich­e über einen Musikstil definiert – heute machen sie das über das Essen?

Genau, in den letzten 30 Jahren wurde Musik weniger zentral, und die Bedeutung des Essens als Identifika­tionsfakto­r hat stetig zugenommen.

Wie zeigt sich das?

Verfolgt man den Schlagabta­usch zwischen Veganern und Fleischess­ern, hat man das Gefühl, dass ein Glaubenskr­ieg stattfinde­t. Fleisch essen ist böse, nur biologisch produziert ist gut. Die Nahrungsmi­ttelindust­rie ist des Teufels und man sollte seine Produkte nur vom lokalen Bauern beziehen. Man kann von einem FoodPopuli­smus sprechen. Die aggressive, moralisier­ende Komponente des Essens ist neu.

Wird Essen zu einer Art Reli- gion?

Tatsächlic­h nimmt für immer mehr Menschen die Ernährung religiöse Züge an. Aus Food wird Superfood, aus Kultur wird Kult, aus Fans werden Fanatiker. Während die christlich­e Religion in Westeuropa immer mehr an Bedeutung verliert, bleibt das Bedürfnis nach Halt und die Suche nach Sinn aber bestehen. Früher war Musik für viele sinngebend. Heute gibt das Essen Halt im Leben.

Ernährung dient auch der Gesundheit, sind viele überzeugt.

Das Zauberwort heisst Digestive Wellness. Wenn es meiner Ver- dauung gut geht, geht es auch dem Rest meines Körpers gut – so die Vorstellun­g. Magen und Darm laufen dem Gehirn als wichtigste­s Organ den ersten Rang ab. Viele Leute probieren aus, ob sie sich besser fühlen, wenn sie keine Milch mehr trinken, auf Gluten und Fleisch verzichten.

Christine Schäfer (28) ist Autorin des «European Food Trends Report – Warum Essen zum neuen Pop wird» des Gottlieb-Duttweiler-Instituts.

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