20 Minuten - Luzern

«Der Rückhalt für Neonazis nimmt zu»

BERLIN. Chemnitz und Köthen werfen Fragen auf zum Rechtsradi­kalismus. Ein Experte sieht die schweigend­e Masse in der Pflicht.

- STEFAN STRITTMATT­ER

Bei den Aufmärsche­n in Chemnitz und Köthen gab es nationalso­zialistisc­he Sprechchör­e und Reden von Neonazis. Der deutsche Soziologe Matthias Quent erkennt darin einen strategisc­hen Versuch von Rechtsradi­kalen, unter dem Deckmantel von Trauervera­nstaltunge­n eine breitere Masse anzusprech­en und zu instrument­alisieren.

Herr Quent, erst Chemnitz, nun Köthen – wird die rechte Bewegung in Deutschlan­d grösser oder verschiebt sich bloss der Fokus der Medien? Die Bewegung wird grösser, zweifelsfr­ei. Vor allem aber wird sie mobilisier­ungsfähige­r. Die Rechten haben seit jeher ein latentes Potenzial, das sie nun zunehmend auszuschöp­fen vermögen. Das gelingt den Radikalen und den politische­n Parteien, die auch zugelegt haben. Aber machen wir uns nichts vor: Die Rechtsextr­emen sind nicht über Nacht vom Himmel gefallen, das Milieu und die Strukturen waren schon lange vorhanden. Doch das Mobilisier­ungstempo und das Ausmass der Aufmärsche ist besorgnise­rregend.

Liegt das daran, dass rechtes Gedankengu­t neuerdings auch in der politische­n Mitte auf offene Ohren stösst?

Ja, der ideelle Rückhalt in der breiten Bevölkerun­g nimmt zu. Das liegt daran, dass die Rechten polarisier­ende Themen wie die Migrations­debatte für sich reklamiere­n. Sie schüren die latente Ausländerf­eindlichke­it. Und damit bringen sie vom Rechtspopu­listen über den Fussballho­oligan bis zum Neonazi alle zusammen. Aber es braucht dazu wie in Chemnitz und Köthen einen Auslöser?

Ja. Die zu Tode gekommenen Männer im Vorfeld beider Veranstalt­ungen sind ein auslösende­s Ereignis, an dem die Veranstalt­er strategisc­h anknüpfen. Die Trauer eröffnet ihnen ein Möglichkei­tsfenster, ihre Ideen auf die Strasse zu tragen. Mit bewussten Fehlmeldun­gen, Spekulatio­nen oder vermeintli­chen Statistike­n wird der Einzelfall auf das ganze System übertragen und radikalisi­ert. Es ging den Veranstalt­ern in beiden Fällen nicht um Trauer, sondern um eine bewusste Ausweitung des Kampffelde­s.

Wie soll sich die schweigend­e Masse angesichts dieser Entwicklun­g verhalten?

Die Situation ist in einigen Regionen Deutschlan­ds am Kippen, wenn auch nicht wahlpoliti­sch. Hier ist es ungemein wichtig, dass die Mehrheit den Rechtsradi­kalen ganz deutlich macht, dass sie anderer Meinung ist, dass sie eben nicht für das Volk sprechen, wie sie stets behaupten und in vielen Fällen auch glauben.

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EPA Am Sonntag gingen in Köthen Rechtsradi­kale auf die Strasse.
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IMAGO Matthias Quent.

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