«Der Rückhalt für Neonazis nimmt zu»
BERLIN. Chemnitz und Köthen werfen Fragen auf zum Rechtsradikalismus. Ein Experte sieht die schweigende Masse in der Pflicht.
Bei den Aufmärschen in Chemnitz und Köthen gab es nationalsozialistische Sprechchöre und Reden von Neonazis. Der deutsche Soziologe Matthias Quent erkennt darin einen strategischen Versuch von Rechtsradikalen, unter dem Deckmantel von Trauerveranstaltungen eine breitere Masse anzusprechen und zu instrumentalisieren.
Herr Quent, erst Chemnitz, nun Köthen – wird die rechte Bewegung in Deutschland grösser oder verschiebt sich bloss der Fokus der Medien? Die Bewegung wird grösser, zweifelsfrei. Vor allem aber wird sie mobilisierungsfähiger. Die Rechten haben seit jeher ein latentes Potenzial, das sie nun zunehmend auszuschöpfen vermögen. Das gelingt den Radikalen und den politischen Parteien, die auch zugelegt haben. Aber machen wir uns nichts vor: Die Rechtsextremen sind nicht über Nacht vom Himmel gefallen, das Milieu und die Strukturen waren schon lange vorhanden. Doch das Mobilisierungstempo und das Ausmass der Aufmärsche ist besorgniserregend.
Liegt das daran, dass rechtes Gedankengut neuerdings auch in der politischen Mitte auf offene Ohren stösst?
Ja, der ideelle Rückhalt in der breiten Bevölkerung nimmt zu. Das liegt daran, dass die Rechten polarisierende Themen wie die Migrationsdebatte für sich reklamieren. Sie schüren die latente Ausländerfeindlichkeit. Und damit bringen sie vom Rechtspopulisten über den Fussballhooligan bis zum Neonazi alle zusammen. Aber es braucht dazu wie in Chemnitz und Köthen einen Auslöser?
Ja. Die zu Tode gekommenen Männer im Vorfeld beider Veranstaltungen sind ein auslösendes Ereignis, an dem die Veranstalter strategisch anknüpfen. Die Trauer eröffnet ihnen ein Möglichkeitsfenster, ihre Ideen auf die Strasse zu tragen. Mit bewussten Fehlmeldungen, Spekulationen oder vermeintlichen Statistiken wird der Einzelfall auf das ganze System übertragen und radikalisiert. Es ging den Veranstaltern in beiden Fällen nicht um Trauer, sondern um eine bewusste Ausweitung des Kampffeldes.
Wie soll sich die schweigende Masse angesichts dieser Entwicklung verhalten?
Die Situation ist in einigen Regionen Deutschlands am Kippen, wenn auch nicht wahlpolitisch. Hier ist es ungemein wichtig, dass die Mehrheit den Rechtsradikalen ganz deutlich macht, dass sie anderer Meinung ist, dass sie eben nicht für das Volk sprechen, wie sie stets behaupten und in vielen Fällen auch glauben.