«Die Ukraine muss primär das Personalproblem lösen»
Die Ukraine ist unter Druck. Vermehrt ist die Rede vom «Tipping Point», der sich im Sommer einstellen könnte. Was ist darunter zu verstehen?
20 Minuten hat bei Franz-stefan Gady nachgefragt, einem der besten ausländischen Kenner der militärischen Lage in der Ukraine. Alle zwei oder drei Monate fährt er dorthin. Soeben ist Gady wieder von der Front zurückgekehrt.
Herr Gady, was wiegt schwerer, die fehlenden Männer oder die fehlende Munition?
In den kommenden Monaten wohl der Personalmangel. Die Ukraine hat noch Munitionsreserven. Sie musste aber ihre Feuerrate stark rationieren an einzelnen Frontabschnitten. Ich glaube aber, dass diese Defizite über das Jahr hindurch schnell ausgeglichen werden können, solange westliche Hilfslieferungen andauern, zumindest für eine Defensivstrategie. Die Munition dürfte also nie zur Gänze ausgehen, und ich nehme an, dass vor allem die europäischen Munitionslieferungen im letzten Quartal noch stärker steigen werden.
Jetzt muss primär das Personalproblem gelöst werden.
Militärs sprechen vom «Tipping Point». Können sie das ausführen?
Wir haben in der Ukraine drei Defizite: Personal, Munition und tief gestaffelte und integrierte Verteidigungsanlagen an der Front. Die Summe dieser drei Dinge könnte dazu führen, dass ein Teil der ukrainischen Front früher oder später kollabiert – zwischen Sommer und Herbst, vielleicht sogar früher, möglicherweise etwas später. Doch wir müssen jetzt erst einmal die kommenden Monate abwarten. Aus der tschechischen Initiative etwa gibt es bald zusätzliche Munition und in den letzten zwei Wochen scheint es grosse Fortschritte beim Errichten von Verteidigungsstellungen entlang einiger Schlüsselpositionen gegeben zu haben, wenn auch nicht in der Komplexität und Tiefe, wie man sie von der russischen Surowikin-linie kennt. Auf jeden Fall sollten wir versuchen, nicht zu sehr in einen Determinismus zu geraten. Denn zurzeit ist sehr viel in Bewegung.
Was hiesse es für die ukraine und für Europa, sollte es zu einem «Tipping Point» kommen?
Ich kann derzeit nicht bewerten, ob es dazu kommt. Und selbst wenn Teile der ukrainischen Front einbrechen beziehungsweise die russischen Streitkräfte grössere Geländegewinne erzielen: Ein Frontkollaps bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Ukraine den Krieg verlieren wird. Man darf nicht vergessen, dass auch die russischen Streitkräfte mit Problemen zu kämpfen haben, vor allem was gepanzerte Fahrzeuge, Artilleriesysteme, Rohre für Artilleriesysteme und Langstreckenmunition betrifft. Auch Russland hat nicht endlos militärisches Potenzial. Ich glaube, da muss man in zwei, drei Monaten wieder bewerten, wie die militärische Lage ist.