So leben Suizid-betroffene weiter
EMMENBRÜCKE LU. Vor einem Jahr hat sich Marvin (23 †) das Leben genommen. Für seine damalige Freundin Raina (24) und seine Schwester Saskia (27) brach eine Welt zusammen.
Trauer, Wut, Selbstvorwürfe: Was passiert, wenn sich ein geliebter Mensch das Leben nimmt? In einer dreiteiligen multimedialen Reportage (Video, Podcast, Print) porträtiert 20 Minuten Betroffene. Heute erzählen Raina (24) und Saskia (27) vom Verlust ihres damaligen Freundes und Bruders Marvin (23 †). Der Experte Jörg Weisshaupt sagt: «So schaffen Medien Verständnis für die Menschen, für die ein langwieriger Trauerprozess beginnt.»
Raina drückt aufs Gaspedal. In einem schwarzen Hyundai Genesis Coupé fährt sie die Serpentinen hoch bis zum Allerheiligenberg im Kanton Solothurn. Hier hat sie mit Marvin früher die Aussicht genossen. Hier hat er sich entschieden, den Weg nicht weiterzugehen. Mit einer Schusswaffe nahm sich der ehemalige Fitnesstrainer im Mai 2019 im Auto das Leben. Es war dasselbe Auto, das Raina nun fährt. «Ich hatte alles verloren. Das Auto war noch meine einzige Verbindung zu Marvin.»
Sie seien beide Autofreaks gewesen. «Manchmal haben wir die Musik aufgedreht und sind einfach herumgefahren. An der Ampel liess Marvin die Hinterräder durchdrehen.» Oder sie kletterten um drei Uhr morgens auf einen Kran, assen Beef Jerky und betrachteten die Sterne. «Es war, als hätten wir uns aus einem früheren Leben gekannt.»
Marvin habe selten gezeigt, dass er traurig war, sagt Raina. Erst aus dem Abschiedsbrief habe sie erfahren, dass Marvin seit dem 14. Lebensjahr nicht mehr richtig Freude empfinden konnte. Noch einen Tag vor seinem Tod habe er betont, wie gut es ihm gehe.
«Als die Polizisten in unserer Wohnung standen und mir sagten, dass Marvin tot ist, stand die Welt still.» Nach einer Welle der Traurigkeit sei sie wütend geworden: «Marvin hat entschieden, mich alleinzulassen, obwohl ich ihn brauchte.» Sie habe sich gefragt: «Warum habe ich es nicht gemerkt?» Dann aber sei die Liebe zurückgekehrt. «Ich ehre und respektiere Marvin trotz seines Entscheids.» Wann immer sie die Trauer überwältige, nehme sie ein Kinderfoto hervor: «Diesem Mädchen mit Wuschelkopf bin ich es schuldig, dass ich glücklich bin. Sie kann nichts dafür, was passiert ist.»
Saskias Wohnung in Emmenbrücke ist voll von Erinnerungsstücken ihres jüngeren Bruders. «In den ersten Tagen hasste ich mich. Marvin war meine Luft zum Atmen. Was war ich für eine Schwester, dass ich nicht mehr für ihn getan hatte?» Die 27-Jährige hat sich schon früh für Marvin verantwortlich gefühlt. «Als er begann auszugehen, schaltete ich mein Handy auf laut, damit er mich jederzeit erreichen konnte. Ich hatte schon damals das Gefühl, ihn beschützen zu müssen.» Später habe sie ihn immer wieder ermuntert, sich einen Job zu suchen, um seine Rechnungen bezahlen zu können. «Ich wollte, dass er mit beiden Beinen im Leben steht. Aber als ich im Abschiedsbrief las, dass er mit dem Leistungsdruck in unserem System nicht klarkam, war mir klar, dass ich dafür verantwortlich war.»
Saskias letzter Gedanke vor dem Einschlafen ist jede Nacht der gleiche: «Ich hätte mehr für meinen Bruder tun sollen.» Der einzige Grund, warum sie Marvin nicht in den Tod folge, seien ihre Kinder und ihr Mann. «Alles, was früher Glück für mich bedeutete, bedeutet heute Trauer, weil ich es nicht mit Marvin teilen kann.» Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, will Saskia sagen: «Vielleicht beendest du so dein Leiden. Aber für alle anderen fängt das Leid erst an.»