Reines Aroma Barocke Architektur, sinnliche Pasta und frisches Gemüse an Italiens Stiefelabsatz
Am Absatz des italienischen Stiefels liegt Lecce, die kulinarisch reizvollste Ecke Apuliens. Nick Savage entdeckt fantastische Pasta sowie Einheimische, die ihre einfachen Gerichte lieben
Sobald es Nacht wird in Lecce, herrscht eine fast gespenstische Atmosphäre in den Straßen. Ein perfekter Zeitpunkt, um nach einem einladenden Abendessen mit gutem Wein in den Gassen zu fahnden. Bei dem Streifzug zieht uns die Basilica di Santa Croce in ihren Bann. Im ersten Moment erscheint die Kirche mit ihren Engeln und Skulpturen wie ein sakrales Gemälde. Das Gebäude wurde aus Pietra leccese, einem hellen, feinporigen und weichen Stein aus der Gegend, errichtet. Von 1549 bis 1695 arbeitete man an der Fassade. Während der Zeit des Heiligen Römischen Reichs war Lecce die Hauptstadt von Apulien, keine andere Epoche hat das Stadtbild so stark geprägt wie der Barock. Im Gegensatz zu dieser verspielten und verschnörkelten Architektur steht die Küche der Region: Die Einheimischen schätzen pure Aromen und einfache, rustikale Gerichte, abgeschmeckt mit dem Einfluss fremder Kulturen, die in diese Gegend kamen.
Die Halbinsel Salento ist sozusagen der Absatz des italienischen Stiefels und der südlichste Zipfel Apuliens. Die Region liegt zwischen der Adria und dem Ionischen Meer, das Land ist weitgehend flach und sehr fruchtbar. Im Verlauf der Geschichte wurde die Gegend von Römern, Ostgoten, Ungarn, Slawen, Normannen und Spaniern besetzt – und dabei immer wieder zerstört. Der Tourismus hat aber glücklicherweise in diesem Teil Italiens bisher keine hässlichen Spuren hinterlassen.
In früheren Zeiten versuchte man, sich gegen Fremde zu verteidigen und erhöhte die Schutzwälle, um Armeen daran zu hindern, Nahrung zu plündern. Andererseits wurde aber Handel mit Seglern aus Ostindien und Arabien betrieben. Diese brachten Zutaten wie Kaffee, Tomaten, Kichererbsen und Auberginen in die Gegend, von denen vor allem das einfache Volk begeistert war, da die Exoten im italienischen Klima leicht angebaut werden konnten.
Über 3000 Jahre lang wurde in dieser Region sehr simpel, aber enorm üppig gekocht. Fleisch war zu teuer, um es regelmäßig auf den Speiseplan zu setzen. Wer kein Geld hatte, ernährte sich vegetarisch von Hülsenfrüchten und Bohnen. Ein wenig Olivenöl dazu, etwas Weizen und Wein – lecker! Solche Gerichte wurden lange als Arme-Leute-Essen abgetan, heute aber lieben wir genau diese einfache Küche, in der nichts verschwendet wird.
Kaum einer kennt die Zubereitung dieser Traditionsgerichte besser als Silvestro Silvestori. Der gebürtige Leccese lebte lange in Norditalien und Amerika, kehrte dann nach Salento zurück und eröffnete The Awaiting Table: eine Kochschule, in der man auch die Sprache und lokale Kultur kennenlernt. Wir treffen uns auf der Piazza Sant’Oronzo im Zentrum der Stadt, zwischen der Säule des Heiligen Oronzo, dem Schutzpatron von Lecce, und dem römischen Amphitheater, das im zweiten Jahrhundert nach Christus von Kaiser Hadrian zur Unterhaltung der Einheimischen erbaut wurde.
Bei einem Caffè con ghiaccio con latte di mandorla (Espresso auf Eis mit Mandelmilch) verrät mir Silvestro: „Je weiter man in Italiens Süden reist, desto länger werden die Kaffeebohnen geröstet. Wer weder Kaffee noch Wein trinkt, wird schnell vereinsamen.“Das kann ich von mir nicht behaupten: Seit meiner
„Die Einheimischen schätzen pure Aromen und einfache, rustikale Gerichte, abgeschmeckt mit dem reichhaltigen Einfluss fremder Kulturen, die in diese Gegend kamen“
Ankunft habe ich immer eines der beiden Getränke in der Hand. Wir schlendern zusammen über den Markt, und Silvestro zeigt mir stolz die vielen lokalen Produkte: Chicorée, Bohnen, Mehl und natürlich Pasta. Dann nimmt er eine Packung mit Maccheroni und Orecchiette in die Hand. Zusammen werden sie Maritati (Hochzeit) genannt, da die Formen der Pasta an einen Penis und eine Vulva erinnern sollen. Da wir nicht tiefer in dieses Thema einsteigen wollen, fragen wir lieber nach der Zubereitung: Die Einheimischen schwenken sie am liebsten in einer pikanten Sauce, besonders köstlich schmecken die Teigwaren in Kombination mit dem leicht bitteren Cime di rapa
(ein Stängelkohl). Silvestro ist ganz in seinem Element und erklärt, wie sich die Zeiten gewandelt haben: „Es ist schon ironisch: Wer sich heute gesund ernähren will, schätzt das einstige Arme-LeuteEssen. Und wenn man einen Anwalt in Sydney oder einen Arzt aus New York fragt, was sie an ihrem Lebensstil ändern möchten, lautet die Antwort immer: weniger rotes Fleisch essen, auf Zucker verzichten, dafür gern einen Wein trinken und mehr Zeit mit der Familie verbringen. Das ist genau die entspannte Lebensweise, die hier längst gepflegt wird.“
Nach dem Einkauf geht es zurück ins Zentrum von Lecce. Die Wohnung von Silvestro liegt versteckt in einem kleinen Hinterhof. Sein ganzer Stolz ist die Küche. Früher war dieser Raum ein Stall, der Boden ist immer noch mit Chianche gepflastert. Das sind Fliesen mit Furchen, die verhindern sollten, dass die Pferde ausrutschen. Von der Decke baumeln Töpfe, dazu hängen über uns getrocknete Kräuter, Paprikaschoten und Knoblauch. Silvestro trägt eine grüne Kochjacke mit weißem Kragen und wirkt ein wenig steif. Aber als wir mit der Zubereitung der Cappelletti
„Je weiter man in Italiens Süden reist, desto länger werden die Kaffeebohnen geröstet“, verrät ein Einheimischer. „Wer weder Kaffee noch Wein trinkt, wird schnell vereinsamen“