In der Stadt an der Elbe wächst die Fine-Dining-Szene
In Hamburg mischen ambitionierte Köche die Gastro-Szene auf. Autor Alex Harris erkundet eine Küchenkultur, die so ist wie die Hansestadt: vornehm, weltoffen und authentisch
Nach Hamburg führen viele Interessen: Manch einer kommt, um Hafenluft zu schnuppern, in der Speicherstadt in die Hansegeschichte einzutauchen und an den Landungsbrücken Schiffe anzugucken. Mancher kommt wegen der Kultur: Elbphilharmonie, aufregende Museen, Theater und angesagte Clubs. Andere kommen, um einmal nachts um halb eins über die Reeperbahn zu taumeln. Und wieder andere kommen, um die Hafenstadt kulinarisch aufzuspüren. Denn hier mischen gerade ambitionierte Jungköche die Spitzengastronomie auf.
Die Hansestadt im Norden Deutschlands gilt als ein Freigeist mit vielen Gesichtern. So unterschiedlich, dass man manchmal gar nicht glauben kann, in ein und derselben Stadt zu sein: Da gibt es alte Arbeiterviertel mit Rotklinker-Bauten und Graffiti an den Wänden. Da beeindrucken Prachtstraßen mit Villen aus der Gründerzeit und eher futuristisch anmutende Wohn- und Arbeitsquartiere. Hamburg prägt all das. Die Stadt kann wild und vorlaut sein, aber eben auch bescheiden und hanseatisch vornehm. Und manchmal liegt das räumlich alles ganz nah beieinander.
Am Wochenende ist das Party- und Rotlichtviertel St. Pauli das pulsierende Herz der Stadt. Mittendurch verläuft die Reeperbahn – grell-leuchtend und rau, berühmt und berüchtigt. Am Abend tummeln sich hier die Partygänger. In einer kleinen Nebenstraße liegt der Fischimbiss Kleine Haie Grosse Fische. Er verkauft, was in Hamburg zu den Grundnahrungsmitteln zählt: Fischbrötchen. Kiezbewohner und Reeperbahn-Touristen stehen hier Schlange, um bis vier Uhr morgens Brötchen mit Matjes, Brathering und Fischfrikadellen zu kaufen. Durch das Bullauge in der Eingangstür kann man einen ersten Blick auf die Auslage werfen. „Komm rein!“Der Mann hinter der Theke lacht mir zu, als würden wir uns schon ewig kennen. Ich bestelle Brathering. Er reicht mir den Teller und grinst: „Mehr Hamburg geht nicht.“Das Brötchen knackt beim Abbeißen, der Fisch ist salzig und zart, Salat und Zwiebelringe frisch geschnitten. Der Fisch kommt vom Fischgroßmarkt in der Großen Elbstraße, die direkt am Hafen parallel zur Elbe verläuft. Es ist die erste Adresse für Fisch in der Stadt. Ich erfahre: „Da kaufen auch die meisten Spitzenköche der Stadt ein.“
„Wasser hat die Hansestadt mehr als genug. Alster oder Elbe – eine Glaubensfrage, die die Hamburger in zwei Lager teilt. An der Alster flaniert man, an der Elbe lässt man sich vom rauen Wind durchpusten“
Und in der Tat, Cornelius Speinle bestätigt das. Wie der 33-Jährige aus einem kleinen Schweizer Dorf in die Hansestadt kam, ist eine Geschichte, die man ihm zuerst nicht glauben will. Nach Stationen in ausgezeichneten Gourmetrestaurants wie Heston Blumenthals The Fat Duck im britischen Bray hatte Speinle sich mit seinem eigenen Restaurant im Heimatort Schlattingen niedergelassen. Dann wurde Klaus-Michael Kühne auf ihn aufmerksam. Der milliardenschwere Logistik-Unternehmer und gebürtige Hamburger lebt in der Schweiz. Er erzählte Speinle vom Luxushotel The Fontenay, das er gerade an der Alster bauen ließ, und erzählte weiter, dass ihm noch ein Küchenchef fehle. Speinle fackelte nicht lange, sagte zu und zog in die riesige Küche in der obersten Etage des Fünf-Sterne-Hauses ein. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Im Februar dieses Jahres wurde er für seine Arbeit im Lakeside mit einem Michelin-Stern gekrönt.
Beeindruckt waren die Tester wohl von Kreationen wie dem feinen Rotkohl-Meerrettich-Macaron, der Räucheraal-Praline mit einem Mantel aus weißer Schokolade und Steinbutt mit TrüffelHollandaise, Artischocken und Verjus. „Wir arbeiten mit starken Aromen, aber man soll sich nach dem Essen nicht schwer fühlen“, sagt Speinle. „Die norddeutsche Küche ist leicht. Das liegt auch am Fisch, den man hier mit Nord- und Ostsee quasi vor der Haustür hat. An diese Leichtigkeit wollen wir anknüpfen.“
Stichwort Wasser: Davon gibt es in Hamburg mehr als genug. Alster oder Elbe – das ist so eine Glaubensfrage, welche die Einwohner in zwei Lager teilt. Auf der Alster schippert man im Ruderboot, auf der Elbe ziehen Containerpötte und Kreuzfahrtriesen vorbei. An der Alster flaniert man, an der Elbe lässt man sich vom rauen Wind durchpusten und träumt sich aufs weite Meer. Nicht zuletzt sorgt die Elbe auch für sichere Jobs. Denn der Hafen bietet viele Arbeitsmöglichkeiten und hier ist rund um die Uhr was los. Gigantische Hafenkräne hieven Fracht von den Schiffen und wieder rauf. Die großen Pötte transportieren sie dann in alle Welt.
So kamen schon zur Hansezeit exotische Gewürze wie Zimt, Safran und Pfeffer in die Stadt. Sie machten aus findigen Kaufleuten schwerreiche sogenannte Pfeffersäcke und haben die kulinarische Entwicklung Hamburgs
mitgeprägt. Auf vielen Speisekarten in den Restaurants der Stadt liest man die Weltoffenheit heraus, die den Hamburgern gern nachgesagt wird. Und das zu Recht: Nicht selten entdeckt man zum Beispiel teure und exotische Zutaten.
In Hamburg lebt ein Großteil der deutschen Millionäre. Man ist bereit, für gutes Essen gutes Geld zu bezahlen. Ein Grund, warum viele Restaurants auf Qualität statt Trends setzen. Ehemals eine Institution in Sachen Kulinarik und Schauplatz von Geld, Geschäften und Geheimnissen war das Cölln’s. Das Restaurant existiert noch, es liegt unscheinbar im Souterrain eines alten Stadthauses – das Rathaus ist gleich um die Ecke – und ist Deutschlands ältestes Austernlokal. Von einem langen Gang mit handbemalten Fliesen an den Wänden gingen kleine Separees ab. Dort trafen sich Promis und Geschäftsleute, um hinter verschlossenen Türen ungestört zu essen und zu reden. Auch Otto von Bismarck oder auch Helmut Schmidt waren zu Gast, über den Austerntellern wurde so manches beschlossene Sache. Vornehm und diskret, typisch hanseatisch.
Mittlerweile heißt das Lokal Cölln’s Mutterland, es hat den Besitzer und das Interieur gewechselt. Die Separees haben keine Türen mehr, aber die Fliesen sind noch da. „Die Räume erzählen ein Kapitel Hamburger Geschichte“, sagt Jan Schawe, der das Restaurant seit zwei Jahren betreibt. „Ich hatte Angst, dass ein weiterer Burgerladen hier einzieht. Das konnte ich nicht zulassen. Also habe ich den Mietvertrag unterschrieben.“Bis dato führte er die Feinkostläden Mutterland in Hamburg. „Als wir vor mehr als zehn Jahren mit unserem Delikatessen-Unternehmen anfingen, war die deutsche Küche alles andere als angesagt. Alle wollten Sushi oder gingen zum Italiener“, erzählt Schawe. „Das wollte ich ändern. Wir haben dann regionale Manufakturen mit hochwertigen Produkten gesucht und alles stylisch gestaltet.“Damit folgt er einem Trend, der Deutschland mittlerweile fest im Griff hat: Regional und lokal sollen die Lebensmittel sein. Schawe sagt: „Die Kunden interessieren sich wieder für die Produkte aus Hamburg und Umgebung.“
Ganz besonders groß ist dieses Interesse bei Fabio Haebel. Er ist Küchenchef und Besitzer des gleichnamigen Fine-DiningRestaurants in St. Pauli. „Es gibt Tomaten und es gibt Tomaten“, sagt Haebel. „Unsere Tomaten kommen von einem Bio-Bauern, der früher nur private Haushalte beliefert hat. Heute fährt er auch gastronomische Betriebe an. Wir kennen uns persönlich.“Die Wertschätzung für die Produkte und das Herzblut für die Arbeit sieht und schmeckt man: Er tischt Hummer-Krokette auf, dann Sauerteigbrot mit Hähnchenleber und Rotbarbe mit Beurre blanc, Kaviar aus Seetang, dicken Bohnen und Muscheln.
„Wir könnten mit normalem Fleisch, normalem Fisch und normalem Gemüse arbeiten. Vielen Gästen wäre das vielleicht gar nicht so wichtig“, sagt Haebel und macht eine Pause. „Mir ist es aber wichtig. Nachhaltigkeit hat bei mir oberste Priorität“, sagt er. „In Berlin ist die Food-Szene schneller, Hamburg tickt da anders. In Berlin geht es darum, die neuesten Adressen zu kennen. Man will mitreden können. In Hamburg geht es ganz einfach ums Essen.“
Die Hafenstadt ist im Wandel. An allen Ecken wird saniert, modernisiert und gebaut. Am Puls der Zeit ist die lebhafte Sternschanze, Hamburgs angesagtestes
„Noch vor zehn Jahren war die deutsche Küche alles andere als angesagt. Alle wollten Sushi oder gingen zum Italiener. Heute ist das Interesse für die Produkte aus Hamburg und der Region wieder sehr groß“
Viertel. Hier schlendert man an Hauswänden mit Graffiti vorbei, trifft sich zum Open-Air-Kino im Park und shoppt in lässigen Boutiquen und Pop-up-Stores. Gegessen wird, was die Szene eben gerade so herstellt und was im Trend liegt: kreative Burger (auch vegetarisch oder vegan), hawaiianische Poké-Bowls und japanische Nudelsuppen, längst auch als Ramen bekannt. Was die Getränke angeht, besinnt man sich dagegen lieber auf Altbewährtes. Kaffee hat als wichtiges Handelsgut in der Hafenstadt Tradition. Seit einiger Zeit ist er wieder angesagt, was auch daran erkennbar ist, dass immer mehr Cafés mit eigener Rösterei eröffnen. Etwa die Public Coffee Roasters, die ihre Bohnen von kleinen Importeuren beziehen, auf einem Hausboot auf der Elbe mahlen und darüber philosophieren wie andere über exzellenten Wein.
Auch die Bierszene boomt. Wer jetzt an Bayern denken will, wird sich wundern, dass Hamburg im 16. Jahrhundert mit über 400 Brauhäusern so etwas wie die Hauptstadt des Bieres war. Heute spielen in der überregionalen Liga vor allem noch die Holsten- und die Ratsherrn-Brauerei mit. Dafür toben sich viele kleine Craft-BeerBrauereien mit aufregenden Kreationen aus. Einen Namen gemacht haben sich etwa Kuddel Bier und Buddelship. Einen guten Überblick und eine Weltreise durch die Craft-Beer-Szene kann man im Craft Beer Store in den Schanzenhöfen unternehmen. Im Angebot: mehr als 400 Biere aus der ganzen Welt.
Vom Schanzenviertel in die Hafencity, vom Kneipentresen an den Kirschholztisch: The Table gilt als Hamburgs bestes Restaurant. Und der mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Kevin Fehling ist der bemerkenswerte Koch dahinter. Sympathisch und mit unglaublicher Ruhe erzählt er: „Das Menü muss sich stetig weiterentwickeln. Unser Ziel ist Perfektion, die erreicht man nur unter Druck, aber positivem Druck.“Fehlings Perfektionismus, seine Kreativität und sein technisches Können sind unvergleichlich. Auch das Restaurant selbst kommt besonders daher: ein großer Raum, Sichtbeton, eine offene Küche und ein geschwungener Kirschholztisch, an dem etwa 20 Gäste Platz haben. Aufs Wesentliche reduziert, aber gemütlich. „Ich wollte hier eine Wohnzimmeratmosphäre schaffen“, sagt er. „Die Gäste sind durch die Nähe zur Küche Teil des Geschehens. Diese Offenheit spiegelt sich auch in meinem Kochen wider. Ich bringe von meinen Reisen neue Techniken und Ideen mit.“Ich frage ihn, ob seine Küche gar nicht typisch deutsch sei. Er antwortet prompt: „Sie ist deutsch!“Er macht eine kleine Pause und setzt dann wieder an: „Sie vereint spanische Avantgarde, französische Tradition, japanische Zurückhaltung und deutsche Präzision: Ich bringe das Beste aus aller Welt in die Hafenstadt.“
Auf die Frage, was Hamburg nun eigentlich so einzigartig macht, antworten Menschen, die in die Stadt gekommen und geblieben sind, vor allem eins: seine Weltoffenheit. Auch Kevin Fehling stimmt zu: „Hamburg ist eben das Tor zur Welt.“
„In Berlin ist die Food-Szene schnelllebiger als in Hamburg. In der Hauptstadt geht es darum, die neuesten Adressen zu kennen. Man will mitreden können. In Hamburg geht es um das Essen selbst“