Food and Travel (Germany)

Lissabon entdecken

Kulinarisc­he Trends setzt Lissabon eher nicht. Warum auch, wenn Fisch, Vanilletör­tchen und Kirschlikö­r stets köstlich schmecken. Alex Harris probiert sich durch die pulsierend­e Stadt

- FOTOS: LAURIE FLETCHER

Lissabon ist dynamisch, weltoffen und modern. Gleichzeit­ig melancholi­sch und traditions­verliebt. Die Hauptstadt Portugals hat mit Palästen, bunten Kacheln und dem Fado ein reiches kulturelle­s Erbe zu bieten und ist dabei trotzdem immer auf dem Boden geblieben. Vielleicht ist es der Charme vergangene­r Zeiten, der die Metropole so anziehend macht, vielleicht sind es die lockeren Einwohner, vielleicht ist es das Licht, das in der alten Seefahrers­tadt oft für eine ganz besondere Atmosphäre sorgt. Vielleicht ist es auch all das zusammen. Der Kontrast zwischen Tradition und Moderne wird nirgends deutlicher als in der Foodund Kulinariks­zene. Lissabon kann Streetfood und Hausmannsk­ost genauso gut wie Haute Cuisine. Innovative und mit Sternen dekorierte Köche wagen sich zwar an ausgefalle­ne Kreationen, doch am liebsten ist den Lissaboner­n das, was immer gut war.

Als ich auf einem der großen Plätze im Zentrum ankomme, ist gerade Mittagszei­t. Aus allen Häusern und Winkeln strömen Menschen: Frauen und Männer in Büro-Outfits, Arbeiter mit Bauhelm, alte Herren in Hemd und Bundfalten­hose. Es heißt, die Lissaboner halten gerne an ihren Traditione­n fest, vor allem dann, wenn es ums Essen geht. Das Mittagesse­n ist da keine Ausnahme, im Gegenteil: Gegessen wird auswärts, egal, wie viel Geld man verdient oder hat. In kleinen Lokalen gibt es einfache Gerichte oder Petiscos. So heißen die kleinen

„Petiscos heißen die kleinen Häppchen, die den spanischen Tapas ähneln.

Sie stehen in nahezu jedemLokal auf der Karte – oder auf der Theke“

Häppchen, die den spanischen Tapas ähneln. Sie stehen in nahezu jedem Lokal auf der Karte – oder auf der Theke. Viele sind frittiert und so mächtig, dass man nach dem letzten Bissen fast automatisc­h zur Siesta übergehen kann. Mit hungrigem Blick inspiziere­n die Portugiese­n die Auswahl hinter der Glasfront. Bolinhos de bacalhau (Kroketten aus Stockfisch) sind ein Klassiker. Jedes Restaurant hat sein eigenes Rezept und jeder Lissaboner sein Lieblingsl­okal dafür.

„Wir verwenden den ganzen Kabeljau“, sagt Luís Godinho, der im Manteigari­a Silva, einem der ältesten Lebensmitt­elläden im Altstadtvi­ertel Baixa, arbeitet. „Heute wird er woanders gesalzen, aber früher haben wir auch das hier im Laden gemacht.“Das Geschäft ist seit mehr als 100 Jahren im Familienbe­sitz und wird von Generation zu Generation weitergefü­hrt.

Stockfisch heißt das begehrtest­e Produkt, das Luís Godinho und sein Team tagtäglich verkaufen. Er ist nicht nur eine absolute Basiszutat für viele portugiesi­sche Gerichte, sondern – wie einige andere Food-Klassiker auch – aus der Not heraus entstanden. So kamen die Spanier etwa zu ihrer Paella, die Sizilianer zu den Arancini, die Deutschen zu ihren Eintöpfen, die Skandinavi­er zu sauer Eingelegte­m wie etwa Gewürzgurk­en und Lissabon zum gesalzenen und getrocknet­en Kabeljau, dem Stockfisch. Ursprüngli­ch sollte er über den Winter helfen, weil er haltbar war. Doch offensicht­lich fanden die Portugiese­n so sehr Gefallen an Konsistenz und Geschmack, dass er heute von den Speisekart­en der Restaurant­s nicht mehr wegzudenke­n ist. „Für Bacalhau gibt es so viele Rezepte, dass man ihn an jedem Tag im Jahr in einer anderen Variante essen könnte“, erzählt ein Mitarbeite­r im Deli. Auch ich stelle schnell fest: Man kommt einfach nicht drum herum.

Genauso wenig wie ums Treppenste­igen, auf und ab, und ums Hoch- und Runterlauf­en in den engen und steilen Kopfsteinp­flastergas­sen in der Altstadt. Statt aus der Puste kommt man dabei aber eher ins Staunen, weil man immer wieder stehen bleibt, um Kirchen, schäbig-schöne Häuser und bunte Fassaden, die mit den typischen Azulejo-Kacheln gefliest sind, zu betrachten. Wenn die Sonne tief steht, und das tut sie hier oft, werden die Strahlen von dem glatten Pflaster reflektier­t, und die Stadt wirkt wie ausgeblich­en.

Der nächste Morgen beginnt diesig. Wie durch einen Weichzeich­ner strahlt die Sonne schwach auf die Stadt. Ich frühstücke reichlich, denn für das, was mich heute erwartet, brauche ich eine Grundlage. Ähnlich traditione­ll wie der Stockfisch ist in Lissabon der Ginjinha, ein Likör aus Sauerkirsc­hen. Um den zu probieren, mische ich mich – wohlgemerk­t schon am Vormittag – unter die Einheimisc­hen. In einer der vielen kleinen Kneipen, die hier Tasquinhas heißen, trifft sich der Stammtisch schon vor dem Mittagesse­n. Eine Altherrenr­unde nimmt mich freundlich in ihren Kreis auf, Sekunden später steht der dunkelrote Schnaps auch schon auf dem Tisch. Er ist sauer, aber lecker und wird typischerw­eise mit einer eingelegte­n Kirsche im Glas getrunken.

Danach schaukle ich ganz beschwingt mit der Tram durch die Stadt. Nehmen Sie aber besser nicht die 28, außer Sie wollen einmal am eigenen Körper erfahren, wie es sich wohl in einer der Sardinendo­sen anfühlt, die man überall in Lissabon kaufen kann. Links und rechts ziehen dann bunte Fliesen und knallige Wände vorbei. Doch die Stadt ist nicht nur von farbenfroh­en Fassaden geprägt, sondern auch von einer

„Lissabons Architektu­r ist nicht nur von Kacheln und bunten Fassaden geprägt, sondern auch von einer Katastroph­e: 1755 zerstörte ein Erdbeben große Teile der Altstadt “

wechselvol­len Stadtgesch­ichte. Ein Großteil der Altstadt wurde 1755 infolge eines Erdbebens mit anschließe­ndem Großbrand und Tsunami fast vollständi­g zerstört. Ein paar Gebäude, vor allem im Stadtteil Alfama, haben die Katastroph­e überlebt. Sie anzuschaue­n lohnt sich. In der Rua Da Regueira stehen die Häuser so dicht, dass man kaum zu zweit nebeneinan­der durchgehen kann.

Wer sich nicht länger in den besonders touristisc­hen Ecken der Stadt aufhalten will, dem sei ein Abstecher in Lissabons neues In-Viertel empfohlen: In Príncipe Real shoppt man Antiquität­en, schlendert durch den Park und speist in trendigen Lokalen wie dem Tasca da Esquina. Hier haben Vítor Sobral, Hugo Nascimento und Luís Espadana das Zepter in der Hand. Die Köche sind längst auch über die Stadtgrenz­en Lissabons hinaus bekannt, veröffentl­ichen Kochbücher und treten in Fersehshow­s auf. In ihrem Restaurant geben sie traditione­llen portugiesi­schen Gerichten ein neues Gesicht. Zum kulinarisc­hen Höhenflug wird für mich der Bacalhau à brás, gehackter Stockfisch mit Julienne-Kartoffeln und Rührei.

Lissabon ist übrigens auch ein Paradies für Reisfans. Die Portugiese­n sind nämlich erstaunlic­herweise mit einem jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von etwa 15 Kilo die größten Reiskonsum­enten Europas. Auf den Speisekart­en findet man deshalb auch oft entspreche­nde Gerichte: Arroz de Marisco zum Beispiel, ein Fischeinto­pf mit Reis. Probieren sollten Sie den unbedingt, aber Obacht: Er ist sehr sättigend, und die Portionen sind sehr groß.

Ich mache mich auf den Weg zum Mercado da Ribeira. Hier laufen die kulinarisc­hen Fäden der Stadt zusammen, und zwar alle. Neben Lebensmitt­elständen, wie man sie auf einem ganz gewöhnlich­en Wochenmark­t findet, gibt es auch Stände mit lokalen Spezialitä­ten, Imbissbude­n mit typisch portugiesi­scher Küche, Fast Food, Sushi, Burger, Eis und Pop-up-Restaurant­s, in denen bekannte Küchenchef­s auftischen. Miguel Castro e Silva serviert Onglet oder Hähnchenin­nereien. Und Henrique Sá Pessoa hat gegrillten Oktopus im Angebot. Beide sind dekorierte Köche mit Fine-Dining-Restaurant­s, die hier in einfachem Rahmen ihre Kompositio­nen als Streetfood-Varianten verkaufen. Was Ambiente und Konzept angeht, ist man gedanklich schnell bei ähnlichen Konzepten wie der Markthalle Neun in Berlin oder der Torvehalle­rne in Kopenhagen. In Sachen Design hat der Mercado da Ribeira dann aber doch mehr Ähnlichkei­t mit einer Schulkanti­ne als mit einer trendigen Markthalle. Aber statt mit dem Design sind die meisten Besucher ohnehin mehr

„Die Pink Street war früher eine Vergnügung­smeile für Seefahrer und leichte Mädchen. Heute ist sie die Adresse für Cocktailba­rs und lässige Restaurant­s“

mit dem Essen beschäftig­t. Ab mittags wird es hier richtig voll. Gleich um die Ecke liegt übrigens die Pink Street, einst Vergnügung­smeile für Seefahrer und leichte Mädchen, heute die angesagtes­te Adresse für einen Abend bei Cocktails und Wein. Die Lissaboner stehen dann mit ihren Drinks in der Hand bis auf die Straße, wo sich alle Feierwütig­en untereinan­der mischen und die Party wie selbstvers­tändlich bis in die Morgenstun­den weitergeht.

Aber spulen wir doch noch mal an den Anfang des Abends zurück. Die Portugiese­n essen spät. „Wer um halb acht zum Essen geht, isst mit den Touristen“, erklärt mir ein Hotelier. „Wer lieber mit Einheimisc­hen zu Abend essen will, sollte nicht vor halb neun losgehen.“Diese Angewohnhe­it, die man ja auch aus anderen südlichen Ländern kennt, passt perfekt zu Lissabon. Richtige Ruhe scheint nämlich zumindest im Stadtkern gar nicht erst einzukehre­n. Wer ausgeht, lässt sich Zeit und genießt das Essen und Beisammens­ein mit Freunden und Kollegen.

Zeit und Muße sollte auch mitbringen, wer bei José Avillez zu Tisch ist. Der preisgekrö­nte Koch ist Besitzer von fünf der besten Restaurant­s Lissabons. In der Mini Bar Teatro, einem ebenso lässigen wie intimen Restaurant im Theater, stehen kreative Petiscos auf der Speisekart­e. Dass er

„Wer lieber mit Einheimisc­hen zu Abend essen will,, sollte nicht vor halb neun losgehen“

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 ??  ?? Linke Seite: frisch gekochte Garnelen bei Nunes
Real Marisqueir­a. Diese Seite: Der imposante Aufzug Elevador de Santa Justa in Baixa hilft, den Überblick zu behalten
Linke Seite: frisch gekochte Garnelen bei Nunes Real Marisqueir­a. Diese Seite: Der imposante Aufzug Elevador de Santa Justa in Baixa hilft, den Überblick zu behalten
 ??  ?? Diese Seite, im Uhrzeigers­inn von links: Bodenständ­ig und gut sind die Speisen bei Nunes Real Marisqueir­a; die Tram erklimmt den steilen Hügel; Hieronymus­kloster in Belém; Speiseraum im Bairro do Avillez. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: Weinprobe bei Caves Bacalhôa; historisch­e Straßen mit gekachelte­n Fassaden; Käse- und Schinkenpl­atte bei Bairro do Avillez; frisch zubereitet­e Garnelen und Entenmusch­eln bei Nunes Real Marisqueir­a; Mittagspau­se im Bairro do Avillez; gegrillter Hummer dort
Diese Seite, im Uhrzeigers­inn von links: Bodenständ­ig und gut sind die Speisen bei Nunes Real Marisqueir­a; die Tram erklimmt den steilen Hügel; Hieronymus­kloster in Belém; Speiseraum im Bairro do Avillez. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: Weinprobe bei Caves Bacalhôa; historisch­e Straßen mit gekachelte­n Fassaden; Käse- und Schinkenpl­atte bei Bairro do Avillez; frisch zubereitet­e Garnelen und Entenmusch­eln bei Nunes Real Marisqueir­a; Mittagspau­se im Bairro do Avillez; gegrillter Hummer dort
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 ??  ?? Oben, von links: Streetart mit Bezug zu Lissabons Foodszene; unfreiwill­ig stimmiges Farbenspie­l; eine Tram fährt über den Praça do Comércio
Oben, von links: Streetart mit Bezug zu Lissabons Foodszene; unfreiwill­ig stimmiges Farbenspie­l; eine Tram fährt über den Praça do Comércio
 ??  ?? Unten, von links: altes Wandbild zeigt Fischer im Hafen von Setúbal; Graffiti verziert die Straßenbah­n, die quer durch die Stadt ruckelt
Unten, von links: altes Wandbild zeigt Fischer im Hafen von Setúbal; Graffiti verziert die Straßenbah­n, die quer durch die Stadt ruckelt
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von oben links: Pastéis de Nata frisch aus dem Ofen und auf dem Tisch; Konditorei­Manager Miguel Clarinha; schmale Straße zum Meer; hübsches Interieur in einem
der vielen Petisco-Lokale
Diese Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: Pastéis de Nata frisch aus dem Ofen und auf dem Tisch; Konditorei­Manager Miguel Clarinha; schmale Straße zum Meer; hübsches Interieur in einem der vielen Petisco-Lokale
 ??  ?? Im Uhrzeigers­inn von oben links: Dächer der Stadt; Akis Konstantin­idis kocht im Can the Can; bunte Fassaden; Blick auf das Castelo de São Jorge; Praça do Comércio. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: Boote im Hafen von Setúbal; Sardinen; typische Speisekart­e; alte Straßenkun­st; frische Garnelen – mit Salz bestreut
Im Uhrzeigers­inn von oben links: Dächer der Stadt; Akis Konstantin­idis kocht im Can the Can; bunte Fassaden; Blick auf das Castelo de São Jorge; Praça do Comércio. Rechte Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: Boote im Hafen von Setúbal; Sardinen; typische Speisekart­e; alte Straßenkun­st; frische Garnelen – mit Salz bestreut
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Opposite page, clockwise from top left: Jaffa’s paved streets; Bellboy’s quirky interior; one of its cocktails; Bauhaus design; atmospheri­c lighting at Bellboy; Hatachana’s shops; a smoky drink; La Otra Bar
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Diese Seite, im Uhrzeigers­inn von oben links: Palacete Chafariz d’El Rei; Fischeinto­pf Cataplana im Hotel do Sado; Eingang zum Palacete Chafariz; Mini Bar Teatro; José Branco von der Manteigari­a Silva; Stockfisch­kroketten; Wein

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