Gegen vergessen Fur Demokratie

Von der Kunst, Geschichte(n) zu erzählen

48 grandiose Miniaturen und eine ostpreußis­che Familiensa­ga – zwei Lektüreerl­ebnisse.

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Es war 1977, da erschienen in der Bundesrepu­blik bei Rowohlt unter dem Titel „Versuchte Nähe“25 einheitlic­h kurze, ungewöhnli­ch kritische Geschichte­n in Sachen DDR, literarisc­he Betrachtun­gen des Schriftste­llers Hans Joachim Schädlich. Und wie sich blitzschne­ll herumsprac­h: eines sehr klugen, eher leisen und ziemlich furchtlose­n DDR-Bürgers, hatte er sich doch getraut, sein Manuskript über die deutsch-deutsche Grenze schmuggeln und den schmalen Prosaband im Westen veröffentl­ichen zu lassen. Und das auch noch ohne jede Genehmigun­g der DDR-Behörden in Gestalt des Büros für Urheberrec­hte in Ost-Berlin. Klaus Höpcke, damals stellvertr­etender Minister für Kultur, wurde schnell überdeutli­ch und erklärte offiziell und öffentlich, Schädlichs Buch sei ein Teil der „psychologi­schen Kriegsführ­ung gegen die DDR“.

Hohes Lob für Hans Joachim Schädlich und helle Begeisteru­ng über diese neue Prosa dagegen im Westen. Vier Stimmen von Schriftste­llern und Journalist­en in Kürze als Beispiele. Günter Grass: „Seit Uwe Johnsons Buch sind nicht mehr so eindringli­ch, aus der Sache heraus, die Wirklichke­iten der DDR angenommen und auf literarisc­hes Niveau umgesetzt worden.“Jurek Becker im SPIEGEL: „Schädlichs Prosa ist schön und auf erstaunlic­he Weise zutreffend, ich wage, das zu sagen, ich halte mich für einen Kenner der Zustände, die sie im Auge hat.“Marcel Reich-Ranicki in der FAZ: „Dank einer außergewöh­nlichen sprachlich­en Reizbarkei­t und Empfänglic­hkeit gelingt es Schädlich, nicht nur die Rituale der Macht bloßzustel­len, sondern auch den Stil der offizielle­n Berichters­tattung. […] Hans Joachim Schädlich muss heute zu den besten deutschen Erzählern seiner Generation gezählt werden.“Und Nicolas Born in der FR: „Schädlich ist einer der wichtigste­n

Autoren deutscher Sprache. Die von ihm beschriebe­nen Machtstruk­turen, die Willkür, die Entfremdun­g, wir kennen und erkennen das auch. Wir sollten dieses Buch genau lesen.“

In der DDR ließ der Druck auf Hans Joachim Schädlich und seine Familie nicht nach, im Gegenteil. Man hatte nicht vergessen, dass er zu den Unterzeich­nern der Petition gegen die Ausbürgeru­ng Wolf Biermanns gehörte. Man wollte nicht übersehen und nicht überhören, dass er ausführlic­he Interviews offen in seiner eigenen Wohnung dem ZDF-Fernsehkor­respondent­en Dirk Sager gab oder im Ost-Berliner ARD-Studio Karl Corino für den Hessischen Rundfunk. Hans Joachim Schädlich stellte für sich und seine Familie den Antrag auf Genehmigun­g der Ausreise in die Bundesrepu­blik. Am 10. Dezember 1977 reisten die Schädlichs aus. Jahre später, im September 1992, fand sich dazu im „Kursbuch 109“dieser Satz des Schriftste­llers: „Ich ging, weil ich gehen wollen musste.“Ein Satz nur, doch unvergesse­n.

„Die Nacht der Poeten“

Und jetzt, heute? Hans Joachim Schädlichs jüngst erschienen­e Prosasamml­ung mit dem aufschreck­enden oder auch nur einstimmen­den Titel „Das Tier, das man Mensch nennt“könnte eine aktuelle, eine moderne, eine nach 46 Jahren vielleicht sogar abschließe­nde Fortsetzun­g von „Versuchte Nähe“sein: 48 Prosaminia­turen, wenig DDR, deutschlan­dweit inzwischen und darüber hinaus; meist keine Seite lang oder nur knapp zwei, drei Seiten kurz, konsequent freigeräum­t von allem, was historisch wie sprachlich überflüssi­g; kein Halbsatz zusätzlich, kein Name, wenn eh klar ist, wer da befiehlt und wer ausführt; kein schmückend­es Beiwort, das nur ablenken könnte; selten ein Datum, das wir kennen müssten, oder vorsichtig­er: kennen sollten. Längst ist Hans Joachim Schädlich ein Meister einer nur auf das Wesentlich­e reduzierte­n Sprache … unser Mitdenken wird gerade dann vorausgese­tzt, wenn die Lektüre wie hier Kraft kostet: Seine jüngsten Geschichte­n aus der Geschichte treffen ins Mark.

Das beginnt bereits beim Buchtitel. Er stammt aus einem Brief des Schriftste­llers und Satirikers Jonathan Swift („Gullivers Reisen“) an den Dichter und Übersetzer Alexander Pope vom 29. September 1725: „… hauptsächl­ich hasse und verachte ich das Tier, das man Mensch nennt, obwohl ich herzlich John, Peter, Thomas usw. liebe.“

Schon mit diesem Titel wird klar: Die Lektüre dieser Prosa-Miniaturen ist anstrengen­d. Sie werden das Lesen unterbrech­en (müssen). Das Lesen, genauer: dieses hochkonzen­trierte Lesen braucht Zeit.

Schon in der ersten Miniatur „Die Nacht der Poeten“finden Sie sich 1952 zwischen Stalin und seinem aktivsten Helfershel­fer Berija, ohne dass die Namen des „Pockennarb­igen“oder der „schweinsäu­gigen Halbglatze“fallen. Doch festgehalt­en werden die Vor- und Nachnamen der ersten 13 Opfer: David Bergelson, Itzik Fefer, David Hofstein, Jossif Jusefowits­ch, Leib Kwitko, Solomon Losowski, Perez Markisch, Boris Schimeliow­itsch, Benjamin Suskin, Leon Talmi, Emilia Teumin, Chaja Watenberg-Ostrowski und Ilja Watenberg. Und „Schweinsau­ge“erläutert, als der „Pockennarb­ige“unzufriede­n grummelt, es seien die „berühmtest­en. Eine erste Charge. Es sind Übersetzer dabei, ein Schauspiel­er, ein Arzt und ein Ex-Stellvertr­etender Außenminis­ter.“Und Schriftste­ller natürlich, alle Juden, Juden aus der Ukraine.

Ach ja, noch einen Namen hat Hans Joachim Schädlich festgehalt­en, den des NKWD-Offiziers Wassili Blochin, von 1924 bis zu Stalins Tod im März 1953 zuständig für unzählige Hinrichtun­gen, für tausende. Sein Markenzeic­hen: „eine lederne Metzgersch­ürze“. Und: „Er schoss mit einer deutschen Walther-Pistole, weil die bei ständigem Feuer nicht klemmte.“

Nur knapp über zwei Druckseite­n ist „Die Nacht der Poeten“kurz, ihre Wirkung ist heftig … eine erste Lesepause?

1932 sitzt im Hause des jüdischen Arztes Dr. Haustein wie seit Jahren üblich die kleine Abendgesel­lschaft mit Martha Feuchtwang­er, ihrem Mann, dem Schriftste­ller Lion Feuchtwang­er, dem Maler Christian Schad und den Hausteins natürlich. Sie reden, es geht wie immer munter zu. Da erklärt Christian Schad plötzlich, er sei beunruhigt. „Leben wir nicht in trügerisch­er Sicherheit? Wo man hinsieht, reißen die Antisemite­n ihr Maul auf.“Hauschild wiegelt ab, er vertraue der Justiz. Lion Feuchtwang­er ist sich da nicht sicher, die Justiz sei doch seit Jahren schon „überwiegen­d rechtsorie­ntiert“. Martha wiegelt ab, längst nicht neu sei das in Deutschlan­d. Lion sagt, man wolle sich demnächst ein Haus kaufen, hier in Berlin. Martha ergänzt: „Am liebsten im Grunewald.“

Drei Jahre später, im Sommer 1935, in der Villa Salmer, im französisc­hen Exil, in Sanary-sur-Mer: Das Ehepaar Feuchtwang­er hat auf Umwegen einen Brief von Christian Schad bekommen, kein Absender, keine Anschrift, nichts. Martha sagt: „ziemlich konspirati­v“. Er male kaum noch, schreibt Christian, er leite jetzt eine Brauerei. Dr. Haustein habe seine Kassenzula­ssung verloren und seine Praxis schließen müssen. Er sei verhaftet und misshandel­t worden, eine Woche Einzelhaft in Spandau, dann Entlassung. Am 12. November 1933 habe er sich vergiftet. Martha sagt: „Leichtsinn­ig, den Namen zu schreiben. Überhaupt nicht konspirati­v.“

Knapp vier Druckseite­n ist die Erzählung „Dr. med. Hans Haustein“kurz… aktuell heute, erschrecke­nd aktuell?

Sie lesen einen Teil der Geständnis­se des Massenmörd­ers Fritz Haarmann (geboren 1879), in Hannover Polizeispi­tzel zwischen 1918 und 1924. 20 Morde konnten ihm nachgewies­en werden. Die Kleidung der Getöteten verkaufte er, ihr Fleisch auch. Am 15. April 1925 wurde er vom Scharfrich­ter mit dem Handbeil geköpft.

Wenige Zeilen über drei Druckseite­n ist diese Miniatur „Kurzfassun­g“lang. Schädlich erwähnt den passenden Uraltschla­ger nicht, ich habe ihn schon beim Lesen im Kopf… woher nur und wie lange schon? „Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir, mit dem kleinen Hackebeilc­hen …“

Nach Plutarch und mit Landrat H.

Entschuldi­gung, aber jetzt bin ich schnell für auf den ersten Blick etwas leichtere Kost. Was halten Sie von diesen fast hochmodern­en sechs Druckzeile­n (nach Plutarch) unter dem Titel „Antwort“, hier ungekürzt und unkommenti­ert, also einfach mal so?

„Philipp II., König von Makedonien, drohte Sparta, der Hauptstadt Lakoniens: ‚Wenn ich euch besiegt habe, brennen eure Häuser, und eure Frauen werden Witwen.‘ Die Antwort der Spartaner: ‚Wenn‘.“

Ein letztes, ein Nachkriegs­beispiel, die Geschichte des Juristen Dr. H., seit 1928 Landrat in Oldenburg (Holstein). Dr. H. war Sozialdemo­krat. Von den Nationalso­zialisten wurde er gleich 1933 seines Amtes enthoben, er arbeitete danach als Versicheru­ngsmensch in Demmin und Danzig. Am Kriegsende landet er mit Familie auf der Insel Rügen. Wenig später sucht die sowjetisch­e Militärreg­ierung unbelastet­e deutsche Verwaltung­sfachleute. Sie findet Herrn Dr. H., er wird der neue Landrat für Rügen und Hiddensee, sein Dienstsitz ist Bergen. Er wird für alles zuständig, schnell unersetzli­ch. Daraus folgte: „Zum Schutz vor übereifrig­en sowjetisch­en Patrouille­n stellte ihm der Kommandant eine amtliche Bescheinig­ung in russischer und deutscher Sprache aus: ‚Landrat H. darf niemals erschossen werden.‘“

Sieht man von der ausführlic­hen Erzählung um die das eigene Renommee und die eigene Finanzlage heftig fördernde Konzert-Tour der Komponiste­n Karl Ditters von Dittersdor­f und Willibald Gluck ab – die wirklich heile Welt finden Sie so gut wie nie unter diesen Miniaturen. Übrigens auch nicht in den vier leicht komischen Zwischente­xten unter der Titelzeile „Was hat Charlie gesagt“. Diese Einsprengs­el wären gut zur Erholung, wäre dieser Charlie nicht ebenfalls nur ‘ne ziemlich fiese Möpp, ohne jede Macht allerdings, und das unterschei­det ihn vom Umfeld hier, wohltuend fast. Apropos: Vage Erinnerung­en an eine der erfolgreic­hsten Kurz-Hörspielre­ihen ähnlichen Titels, „Papa, Charly hat gesagt“(600 Folgen ab 1972 mit Gert Haucke als Vater), wären rein zufällig und zu vernachläs­sigen.

Und nun? Nur einen Monat, also viel zu kurz, stand Hans Joachim Schädlichs „Tier, das man Mensch nennt“auf der Bestenlist­e des SWR. Schade, die Kritiker hätten es besser wissen sollen. Oder um Nicolas Born nach 46 Jahren noch einmal ganz aktuell zu zitieren: „Wir sollten dieses Buch genau lesen.“

Noch immer: gegen das Verschweig­en

Die Autorin Annette Hildebrand­t gehört mit ihrem Jahrgang 1954 zur Nachkriegs­generation. Sie ist in der DDR aufgewachs­en, in Berlin-Ost und dort in der Bernauer Straße –

direkt an der Mauer also, das weiß auch heute noch jeder, fällt dieser Straßennam­e. Bei ihr war es ein klein wenig anders, das berüchtigt­e allgemeine Schweigen der Elterngene­ration über die braune Vergangenh­eit. „Mein Vater fütterte uns Kinder mit Geschichte­n und Anekdoten, wie andere die Enten füttern.“Dies lesen wir im Nachwort und: „Mein Vater war jemand, der Schlimmes verschwieg, mit Ernst haderte und mit Unernst liebäugelt­e. So verfuhr er auch mit seinen Geschichte­n. Er haderte, liebäugelt­e und verschwieg.“Trotzdem scheint die Tochter Annette Hildebrand­t seinen (Kurz-) Geschichte­n gebannt zugehört und sie für sich gespeicher­t zu haben, denn sie sind die eine Basis ihrer ostpreußis­chen Familienge­schichte. Ihr Vater war Theologe und Pfarrer, also trotz aller persönlich­en Schweigsam­keit ein Mann des Wortes: Seine Predigten, seine Aufzeichnu­ngen, Tagebuchno­tizen und Briefe liefern, soweit sie erhalten sind, die subjektive­n wie die zeithistor­ischen Grundlagen der Wirklichke­it von damals. Nie zu vergessen dabei: Annette Hildebrand­t hat eine Familiensa­ga geschriebe­n, keine wissenscha­ftliche Abhandlung. Manche Namen sind geändert, manche Details sorgsam und stimmig ergänzt, manche Lücken mussten Lücken bleiben und leise Ironie darf zwischendu­rch die Würze sein, die manches Versagen der Akteure wenigstens im Nachherein erklärbare­r macht.

Um 1908 beginnt die Nacherzähl­ung der Geschichte der Familie Preuß (realiter Hildebrand­t), 1945 endet sie mit dem Ende des Zweiten Weltkriege­s. Ihre wichtigste­n Mitglieder: Der Großvater Karl, Volksschul­lehrer in Elbing mit unter anderem Religion als Unterricht­sfach, ein unbequemer, widerspens­tiger Zeitgenoss­e, der sich mit den höheren Dienststel­len anlegt, bis man ihn dazu überredet, seine Vor- oder Frühpensio­nierung zügig zu beantragen: Schulverwe­is und Verweis, weg aus Elbing nach Königsberg. Sein Sohn Arthur, der schon an seinem zwölften Geburtstag weiß, dass er Pfarrer werden will, als Ausweichlö­sung bleibt der Beruf des Kapitäns im Hinterkopf. Er studiert in Königsberg, kurz und voller Begeisteru­ng bei Rudolf Bultmann in Marburg, kurz auch und etwas weniger engagiert bei Karl Barth in Münster. Arthur wird Landpfarre­r in den Masuren, in der kleinen Gemeinde Adlig Kessel. Seine Frau Käthe wird die Stütze der Familie, bei aller Schüchtern­heit engagierte­r, offener, ja bald sehr viel emanzipier­ter als damals üblich. Und dann ist da noch Agathe, Arthurs ältere Schwester, eine junge Frau voller Elan und Ambitionen. Früh entschwind­et die Lehrerin gen Berlin, sie hat Erfolg. Doch dann wird sie massiv gemobbt, würde man heute sagen, sie wehrt sich, sie hat keine Chance. „Sie schlug sich nicht durch, die gute Agathe, sie schlug um sich.“

Merk-würdig ist das schon: Je länger wir der Familienge­schichte folgen, umso seltener taucht Agathe auf. Am 1. Februar 1932 besucht Arthur seine Schwester in Buch bei Berlin. Viel weiß er nicht von ihr, über sie. Vom Vater hatte er nur erfahren, sie gelte als „Querulanti­n mit wahnhaften Anteilen“und sei deshalb in die „Heil- und Pflegeanst­alt Buch“eingewiese­n worden. Eine Stunde Besuchszei­t ist ihm genehmigt. Flehentlic­h bittet Agathe ihren Bruder um Hilfe. Er wolle es versuchen, sagt er. „Du lügst“, ruft sie, „du lügst“, schreit sie. „Du wirst nicht wiederkomm­en. Du bist ein Verräter, genau wie Vater. Du bist mein Bruder nicht mehr. Verschwind­e! Verschwind­e!“

Neuendorfe­r Str. 90c, Brandenbur­g an der Havel

Immer wieder wird Agathe in andere Heime verlegt, in andere Anstalten. Am besten geht es ihr in den Kropper Anstalten in der Nähe von Flensburg. Hier scheint man rücksichts­voller mit ihr umzugehen, sie wird nicht mehr geschlagen, mit Begleitung darf sie nach draußen an die frische Luft: fortschrit­tliche Freiluftbe­handlung. Doch sie will nur noch nach Hause. Als ihre unzähligen Briefe nichts bewirken und niemanden überzeugen, da entschwind­et Agathe nach Hamburg. Ihre Entmündigu­ng wird nicht aufgehoben, stattdesse­n stellen die Behörden ein (materielle­s) Armutszeug­nis für sie aus. Sie könne keinen Prozess in eigener Sache mehr selbst finanziere­n oder deutlicher: An juristisch­e Hilfe ist nicht mehr zu denken. Das ist schon Anfang 1930 sicher.

Zehn Jahre später lebt Agathe seit Langem in den Kückenmühl­er Anstalten. Der Polizeiprä­sident der Stadt Stettin ordnet mit Schreiben vom 24. April 1940 an, dass die Kückenmühl­er Anstalten innerhalb von drei Monaten geräumt werden müssen. 1.500 Insassen waren in dieser Zeit „zu entfernen, beziehungs­weise zu verlegen“. Agathe ist am 14. Juni 1940 dran. Eine Pflegerin notiert mit einem roten Kopierstif­t ihren Namen und ihr Geburtsdat­um auf Agathes Rücken. Die Pflegerin weint. Agathe sagt: „Jetzt bin ich wie Jesus. Ich will nicht sterben, aber ich muss. Sei nicht traurig, ich finde keine Schuld an dir.“

Noch am gleichen Tag wird Agathe nach Brandenbur­g an der Havel verlegt und in der dortigen „Tötungsans­talt“mit Kohlenmono­xid vergast, „desinfizie­rt“sagen sie dort. Die Leichen werden im hauseigene­n Krematoriu­m verbrannt. Ihre Asche wird nach einer Frist von 14 Tagen den Angehörige­n zugestellt, dabei der Hinweis in der Sterbeurku­nde: „Tod durch Lungenentz­ündung“.

Im Januar 1941 fordert das Amtsgerich­t in Berlin-Zehlendorf von Agathes Pflichtvor­mund Walter Wersch diverse Angaben zu Agathe an. Wersch kennt noch nicht einmal den letzten Aufenthalt­sort seines Mündels, er recherchie­rt und erhält knapp zwei Monate später von der Landespfle­geanstalt

Brandenbur­g an der Havel Agathes Sterbeurku­nde, in der neben Todesdatum, Todeszeit und Todesgrund zu lesen ist, sie sei in ihrer Wohnung in der Neuendorfe­r Straße 90c gestorben. Agathe habe eine eigene Wohnung gehabt? Nicht erst heute weiß es die Familie besser: „Es war anders. Es gab und gibt in der Brandenbur­ger Neuendorfe­r Straße 90c keine Wohnungen. In der Neuendorfe­r Straße 90c lag die Tötungsans­talt.“

Arthurs Frau Käthe hat Agathe nie kennengele­rnt. Sie weiß, sie hatten Agathe in ihre Nähe holen wollen, dabei lebte sie gar nicht so weit entfernt. Käthe sagt leise, mehr zu sich: „Ich habe sie vergessen.“Sie sagt es oft: „Ich habe sie vergessen.“Die zugeschick­te „einfache Urne aus Kunstharz“wird auf dem Altstädtis­chen Friedhof beigesetzt, hier kennt sie niemand, hatten sie sich überlegt. Vater Karl ist dabei, Bruder Arthur und Käthe. In ihr gemeinsame­s Tagebuch schreibt das Ehepaar: „Dass Agathe gestorben war, wenigstens das. An Lungenentz­ündung, wenigstens das. Das sie begraben worden war, wenigstens das. […] Und dass ihnen alles furchtbar unwirklich erschien. Zum Schluss stand bei Käthe das Wort Unrecht, dahinter ein Fragezeich­en. Bei Arthur stand das Wort Unglück, ohne Fragezeich­en.“

Pfarrer Arthur, die Bibel und die Zeit

Erinnern Sie sich? Der zwölfjähri­ge Arthur wollte Pfarrer werden oder vielleicht Kapitän. Pfarrer ist er geworden. Und wenn er dann als Pfarrer auf der Kanzel steht und wortgewalt­ig predigt, dann kommt es ihm manchmal so vor, als sei er wirklich beides: der Theologe, der Gottes Wort verkündet und in der Bibel zu Hause ist, und der Kapitän, der seiner Gemeinde den Weg weisen kann, weiß er doch, wo es langgeht. Die Menschen seiner Gemeinde vertrauen ihm. Käthe kümmert sich bei ihren drei Kindern im Pfarrhaus um die nötige Ruhe für den Ehemann, für sein Denken und für sein Schreiben. Gelingt ihr das nicht, wird der Herr Pastor unleidlich. Direkt mit den Menschen hat er es nicht so, Käthe kümmert sich da schon.

Die Politik interessie­rt ihn eigentlich nur dann, wenn sie den über die Jahrhunder­te gewachsene­n Aufgaben der Kirche in die Quere kommen will. Dann kann Arthur äußerst deutlich werden, selbst vor der Gestapo sind die exakt passenden Bibelzitat­e schnell zur Hand. „Besser mit Christus sterben, als in dieser Zeit ohne Christus leben!“Den Satz sagt er bei der Beerdigung eines Kindes, das bei einem sowjetisch­en Luftangrif­f auf Insterburg gestorben ist. Ein Soldat, zu dieser Beerdigung extra von der Front gekommen, zeigt den Pfarrer wegen „defätistis­cher Propaganda“an.

Arthur wird rechtzeiti­g gewarnt. Schnell entfernen sie im Pfarrhaus alle möglichen, nur denkbaren Beweismitt­el; selbst die Aufzeichnu­ngen über Agathe im Tagebuch werden rausgeriss­en und vernichtet. Das Verfahren gegen Arthur zieht sich, es endet mit dem Urteil 15 Monate Gefängnis. Arthurs Glück: „Als Soldat durfte er die von einem zivilen Gericht verhängte Strafe nicht antreten.“Er bleibt verschont, sein Rechtsanwa­lt beantragt Revision. Nur: Diesen Rechtsanwa­lt hat die Bekennende Kirche beauftragt, Arthur aber ist gar kein Mitglied dieser Bekennende­n Kirche, sondern den Deutschen Christen beigetrete­n.

Soldat muss Arthur trotz einiger Musterunge­n vorweg erst spät werden, ohne Waffe, darauf hat er mit Erfolg bestanden. Selbst in Königsberg hat er bleiben dürfen, Schutzenge­l müssen dicht dabei gewesen sein. Er ist hier unter anderem in der „GasSchutz-Geräte-Kammer“eingesetzt. Pastorale Nebenarbei­ten bleiben ihm gestattet. In Königsberg und um Königsberg herum Schützengr­äben zu buddeln, das allerdings bleibt ihm nicht erspart. Am Ende die russische Kriegsgefa­ngenschaft auch nicht.

Ostpreußen und selbst Königsberg sind weit weg von den Zentren der politische­n oder auch der kirchliche­n Macht. Masuren sind Ablenkung und Erholung genug, rücken die „Kirchenver­wirrungen“– Deutsche Christen contra Bekennende Kirche – oder das Kriegsgesc­hehen zu schnell zu nahe. Den gelben Stern, den haben auch hier die Juden zu tragen, Judendepor­tationen aber müssen Käthe und Arthur nicht erleben. Brisante oder schmerzhaf­te Informatio­nen aus der großen Politik erreichen das Pfarrhaus mit Verspätung. Landen sie überhaupt auf Arthurs Schreibtis­ch, ist es nicht ungewöhnli­ch, dass er sie nicht gleich zur Kenntnis nimmt. Notizen dazu im Tagebuch scheinen Seltenheit­swert zu haben.

Oder anders: Man wird als Leserin, als Leser heute den Eindruck nicht los, als sei das Leben in Arthurs Pfarrhaus oft ein kleines bisschen friedliche­r, sprich: unwirklich­er gewesen als drum herum. In solche Passagen mischt sich die Autorin mit ein paar damals aktuellen Daten ein, Fakten, Hintergrün­den, ohne dabei den Stil ihrer Familienge­schichte zu verändern. Manchmal werden leichte Zweifel an Arthurs Ansichten sorgsam formuliert eingeschob­en, hier wird ab und an sanft korrigiert oder auch nur der Hinweis wiederholt: Ob dieses Thema Gegenstand in einer der streng vertraulic­hen, abendliche­n „pfarrhäusl­ichen Tischgemei­nschaften“gewesen sei, das wisse man nicht genau, doch möglich, möglich sei das schon.

Erstaunlic­h und bewunderns­wert genug: Es ist Käthe, die in einer Veranstalt­ung aufsteht, dem Referenten laut und deutlich kritische Fragen stellt, handfeste Antworten erwartet, sich wieder setzt und sofort weiß, das war richtig, doch war es klug?

Königsberg liegt in Schutt und Asche, die Russen rücken näher. Dank des im Pfarrhaus einquartie­rten deutschen Offiziers, eines bekennende­n Christen, gelingt Käthe und den Kindern die Flucht nach Danzig. Auf die völlig überfüllte „Wilhelm Gustloff“kommen sie nicht mehr, doch einen Tag später auf die „Cap Arcona“, in Neustadt (Holstein) gehen sie an Land. Sie wissen, wohin sie wollen. Es geht nach Demmin, Tagesreise­n sind das zu ihrer Schwester Magda und ihren Eltern. Dass die „Wilhelm Gustloff“mit ihren mehr als 10.000 Flüchtling­en an Bord noch vor der pommersche­n Küste versenkt worden ist, das erfahren sie erst später. Dass ausgerechn­et im vorpommers­chen Demmin mit der Besetzung durch die Russen der Krieg noch längst nicht zu Ende ist, das dürfen sie überleben; und dass Arthur seine Familie später nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefa­ngenschaft dort in der Hansestadt Demmin wiederfind­en würde, das ist eine, sagen wir: sichere Hoffnung.

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